Ist es ein Hanzo? Ist es ein Y1RS? Ein S5? Nein – es ist das neue ONE. Factors neustes Aero-Rennrad soll das schnellste UCI-konforme Race-Bike der Marke sein, und optisch nimmt es deutlich Anleihen bei einigen der bewährtesten Aero-Plattformen am Markt. Aber ist es wirklich das schnellste – und wie sehr solltest du Aero-Versprechen überhaupt trauen?
Hier ist, was wir über das spektakuläre neue Factor ONE wirklich wissen – aus Factors eigenen Launch-Daten und aus unabhängigen Windkanaltests der Cyclingnews Labs.

Was ist das neue Factor ONE?
Das neue ONE ist Factors kompromissloses Aero-Race-Bike, ersetzt das ursprüngliche ONE und reiht sich neben OSTRO VAM und O2 im Line-up ein. Es basiert im Kern auf drei Ideen:
- Die gelockerten UCI-Regeln rund um Gabel- und Steuerrohrmaße maximal ausreizen.
- Das Bike um moderne Rennpositionen herum konstruieren (vorgeschobene Sättel, kurze Kurbeln, schmale Lenker, viel Reach).
- Rahmen, Gabel, Cockpit, Laufräder und Flaschen als ein einziges Aero-System denken.
Zentrale Design-Features laut Launch-Book:
- Bayonet-Gabel mit extrem weit außen stehenden Gabelbeinen und sehr schmaler Stirnfläche
- Ausgeprägte „Chin“-Verkleidung unter dem Steuerrohr, um die Strömung vom Vorderrad zu kontrollieren
- Integriertes Cockpit ohne klassischen Vorbau – stattdessen Lenkergrößen, die etwa 110–150 mm Vorbaulängen entsprechen
- Sehr steiler effektiver Sitzwinkel (73,5°–77° über verstellbaren Sattelkopf)
- Erhöhter Tretlagerabsenkung (+5 mm vs. OSTRO), um kürzere Kurbeln und größere Reifen hinsichtlich Schwerpunkt auszugleichen
- Über alle Größen hinweg identische Lenkgeometrie, Toe-Overlap konstruktiv vermieden
- Vollständig innen verlegte Züge, Scheibenbremse-only, elektronische Schaltung-only
Factors eigene interne Aero-Daten (Bike + Fahrer, nach unternehmenseigenem Protokoll) behaupten:
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> 8 % „schneller“ als OSTRO 2.0
- ~ 15 % „schneller“ als das Cervélo S5 von 2024
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> 22 % „schneller“ als das Specialized Tarmac SL8
Diese Prozentwerte sind relative Widerstandssenkungen über einen Yaw-Sweep, aber Factor veröffentlicht keine absoluten Zahlen (Watt oder Gramm Widerstand). Allein das zeigt: Man sollte sie eher als Richtung verstehen, nichtals in Stein gemeißelte Wahrheit.

Design-DNA: ein bewusstes Aero-Patchwork
Wenn dich das Bike an andere Räder erinnert, ist das kein Zufall:
- Das Cockpit erinnert stark an das Colnago-Y1RS-System: einteiliges Cockpit,
um Vorbaulängen über die Geometrie des Lenkers abzubilden und dem Fahrer über
die Form etwas Stack zu geben. - Die Bayonet-Gabel mit weit stehenden Gabelbeinen bewegt sich klar im gleichen
konzeptionellen Raum wie das Hope HB.T und die jüngste Generation von
Aero-Gabeln mit weiter Bein-Stellung (ein anderer Ansatz als beim S5, das den
Wind stärker über die Form vom Bein wegleitet). - Das Hinterdreieck und das sehr aufrechte Sitzrohr/-stütze erinnern an
Factors eigenes HANZŌ-TT-Projekt und nicken in Richtung Räder wie das
Specialized Shiv TT. - Das Steuerrohr mit „Chin“-Verkleidung stammt im Geist aus dem modernen
Bahn-/TT-Design und wird hier in ein UCI-konformes Aero-Rennradformat gepresst.
In Summe kann das ein wenig „Patchwork“ wirken – ein Best-of aktueller Aero-Trends – aber in einem Punkt ist es stimmig: Jede große Oberfläche ist klar auf minimale Stirnfläche (CdA) und Stabilität über den Yaw-Bereich hin optimiert.

Factor ergänzt dazu einige clevere Details – und ein paar Fragezeichen:
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Di2-Akkuhalter im Tretlagerbereich
- Auf dem Papier eine saubere Integration, aber genau im Tretlager sammelt sich Spritzwasser und Waschwasser. Wie sich das langfristig in nassen Regionen und bei Hochdruckreinigern auswirkt, bleibt abzuwarten.
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Komplexe Bayonet-Gabel-Montage
- Die Explosionszeichnungen deuten auf eine deutlich aufwendigere Montage hin als bei einer Standard-Gabel/Vorbau-Kombi. Man kann mit einer steilen Lernkurve in der Werkstatt rechnen – mehrere Teile und Werkzeuge gleichzeitig zu halten ist genau der Moment, in dem teures Carbon schon mal den Boden küsst. (Auch wenn ich offen sagen kann: Ich liebe Look und Idee einer Bayonet-Gabel!)
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Kaum sichtbare Komfortfeatures
- Tiefe Rohre, ein aufrechtes Sitzrohr und ein sehr steifes, integriertes Cockpit signalisieren klar: Hier geht es nicht um Komfort, sondern um Race – kein Rad für gemütliche RTFs oder lange Bikepacking-Tage.

Unabhängiger Windkanaltest: Cyclingnews Labs
Zu Factors Kredit: Sie haben den Cyclingnews Labs erlaubt, ein Vorserien-ONE im Windkanal zu testen – ohne Einfluss auf Protokoll oder Veröffentlichung. In diesem Test trat das ONE gegen 11 andere Superbikes an.
Voller Artikel und alle Daten (Credit: Cyclingnews / Cyclingnews Labs):
https://www.cyclingnews.com/bikes/pro-bikes/we-took-factors-new-one-aero-bike-to-the-wind-tunnel-does-it-stack-up-to-factors-fastest-uci-legal-road-bike-claims/
Testprotokoll (vereinfacht)
- Geschwindigkeit: 40 km/h
- Yaw-Winkel: −15°, −10°, −5°, 0°, 5°, 10°, 15°
- Drei Bedingungen:
- Bike-only, Serienkonfiguration, standardisierter 25-mm-GP5000 S TR vorn
- Bike + Fahrer (fixe Position, 90 U/min, identisches Trikot/Set-up)
- Bike-only mit Kontroll-Laufrädern (ENVE SES 4.5 + 28-mm-GP5000 S TR)
- Rahmengröße: 56 cm, Geometrie über alle Bikes so gut wie möglich
angeglichen - Aero-Flaschen und Flaschenhalter jeweils entsprechend dem Design des Bikes, kein Computerhalter.
Angegebene Messunsicherheit:
- Fahrer-on-CdA: ±0,0021 m² ≈ ±1,73 W bei 40 km/h
- Bike-only-CdA: ±0,0004 m² ≈ ±0,33 W bei 40 km/h
Ergebnisse: Bike-only – das ONE ist klar am schnellsten
Hier kann das ONE seine Stärken voll ausspielen.
- Gewichteter CdA: 0,0747 m² – Bestwert im Test
- Bei 40 km/h entspricht das 61,51 W aerodynamischem Widerstand
- Das sind 2 W weniger als beim nächstschnellsten Rad und 40,28 W weniger als beim Referenzrad Trek Émonda ALR (Rundrohre, außenliegende Züge, flache Laufräder)
Cyclingnews hebt hervor, dass der Abstand zwischen Platz 1 und 2 größer ist als der Abstand zwischen Platz 2 und 7. Im Kontext extrem optimierter Superbikes ist das ein starkes Ergebnis.
Ergebnisse: Bike + Fahrer – faktisch gleichauf mit dem S5
Sobald ein Mensch auf dem Rad sitzt, schrumpfen die Unterschiede – wie immer.
-
Bei kleinen Yaw-Winkeln ist das Factor ONE das schnellste Rad im Test:
- Gewichtetes Fahrer-on-CdA: 0,3188 m²
- Nächstes Rad ist das Cervélo S5 mit 0,3260 m²
-
Bei größeren Yaw-Winkeln holt das S5 auf. Über den vollständig gewichteten
Yaw-Bereich hinweg:- S5: 0,3187 m²
- ONE: 0,3188 m²
Diese Differenz von 0,0001 m² ist praktisch irrelevant und liegt voll in der
Messunsicherheit. In Watt:
- Factor ONE: 273,17 W
- Cervélo S5: 273,12 W
In den Worten von Cyclingnews „gewinnt“ das S5 auf dem Papier – aber mit einem Abstand, der kleiner ist als das Messrauschen. Dazu kommt: Das getestete S5 fuhr im 1x-Setup ohne Umwerfer, was bei diesen Geschwindigkeiten typischerweise ~1 W spart. Man kann also sehr gut argumentieren, dass ONE und S5 in einem realistischen Fahrer-on-Szenario faktisch gleich schnell sind.
Ergebnisse: Standardisierte Laufräder – immer noch vorne
Cyclingnews hat außerdem ENVE SES 4.5 montiert, um zu sehen, wie sich die Frames
mit einem gemeinsamen Laufradsatz schlagen:
- Mit ENVE SES 4.5 + 28-mm-Reifen ist das ONE weiterhin das schnellste Rad
im Bike-only-Test:- Gewichteter CdA: 0,0761 m²
- 62,65 W bei 40 km/h
Das ist 1,14 W „langsamer“ als mit den serienmäßigen Black Inc 62 unter demselben Protokoll – aber immer noch das beste Ergebnis im Feld. Colnago Y1RS und Dare profitieren relativ stärker vom Laufradwechsel, während das Cervélo in der Rangliste abrutscht.
Die Quintessenz:
- Das ONE ist als komplettes Factor-System extrem schnell, und
- Es bleibt klassenführend, selbst wenn man Laufräder als Variable neutralisiert.

Warum man Aero-Versprechen nicht blind glauben sollte
All das zeigt das ONE in einem sehr positiven Licht – zurecht. Gleichzeitig macht es deutlich, warum Konsument:innen Aero-Zahlen bei jeder Marke mit einem kritischen Blick lesen sollten.
Ein paar Schlüsselfragen, die man sich immer stellen sollte:
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Bike-only oder Bike + Fahrer?
- Bike-only überzeichnet Unterschiede, weil das Rad 100 % des Widerstands ausmacht.
- Mit Fahrer ist das Rad vielleicht noch 20–30 % des Gesamt-CdA – die Abstände schrumpfen drastisch.
- Factors Prozentwerte sagen nicht klar, ob sie auf Bike-only, Fahrer-on oder einer Mischung basieren. Cyclingnews zeigt beides explizit.
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Welche Yaw-Verteilung wird verwendet?
- Zitiert die Marke Best-Case-Werte bei einem „schönen“ Yaw-Winkel, einen simplen Durchschnitt von ±15°, oder eine realistische gewichtete Yaw-Verteilung?
- Das ONE wirkt besonders stark darin, seine Performance über viele Yaw-Winkel zu halten – arguably wichtiger, als bei 0° einen Schönheitspreis zu gewinnen.
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Welches vollständige Setup wurde getestet?
- 1x vs. 2x, Umwerfer ja/nein, Reifenbreite, Flaschen-Setup, Computerhalter, Fahrerposition – all das verschiebt das CdA um 1–5 W.
- Beispiel: Das S5 von Cyclingnews lief als 1x und liegt trotzdem nur messtechnisch minimal vor dem ONE.
-
Von welcher Luft reden wir?
- Fast alle Windkanal-Setups arbeiten mit sauberer, laminarer Strömung. Das ist reproduzierbar und nützlich, aber nicht die chaotische, turbulente Luft draußen auf der Straße.
- Soweit mir bekannt ist, ist Reserve nach wie vor die einzige große Laufradmarke, die sich öffentlich klar zu turbulenten Outdoor-Tests bekennt – also Aero-Messungen in wirklich unruhiger, realer Luft. Genau dort zeigt sich, ob ein Design sich außerhalb des Tunnels immer noch „nett“ verhält.
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Ist das Bike als System gedacht – und kaufst du das ganze System?
- Die meisten modernen Aero-Räder, inklusive ONE, sind als geschlossene Systeme optimiert: proprietäres Cockpit, definierte Felgenhöhe und Reifenbreite, markeneigene Flaschen, teils konkrete Reifenmodelle.
- Der Laufradwechsel-Test von Cyclingnews unterstreicht das: Das ONE ist mit Black Inc 62 am schnellsten und etwas langsamer auf ENVE, während manche Konkurrenten stärker vom ENVE-Swap profitieren. Die Geschichte vom „schnellsten Rahmen“ ist untrennbar mit der Frage „mit welchen Laufrädern und Reifen?“ verbunden.
Wo landet also die Erzählung vom „schnellsten aller Zeiten“?
- Factors eigene Daten zeigen in ihrem Protokoll deutliche Zugewinne gegenüber OSTRO, S5 und SL8.
- Unabhängige Daten zeigen das ONE als schnellstes jemals von Cyclingnews getestetes Bike im Bike-only-Setup und faktisch gleichauf mit dem S5 mit Fahrer.
Die faire Zusammenfassung: Das ONE gehört klar zur absoluten Spitze dessen, was aerodynamisch aktuell möglich ist. Aber niemand, der ehrlich ist, kann behaupten, es sei in allen Szenarien, unter allen Bedingungen, konkurrenzlos „das schnellste Aero-Rennrad der Welt“. Es ist eines von sehr wenigen Rädern, die in diesem Gespräch überhaupt vorkommen.

Fahr- und Renneinsatz: Kontext
Ein paar Eckpunkte aus der Praxis:
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Gewicht
Cyclingnews hat ein unlackiertes 56er-Rahmenset mit 7,35 kg „nackt“ gewogen. In einem realistischen Komplettaufbau mit Pedalen und Flaschen liegt das ONE damit im sehr konkurrenzfähigen Bereich anderer Aero-Bikes – für ein so extremes Aero-Design absolut respektabel. -
Einsatzbereich
Fahrer von Israel–Premier Tech haben das ONE vor allem auf flachen oder welligen Etappen gefahren und auf OSTRO (und O2) bei anderen Profilen zurückgegriffen. Das legt nahe, dass Factor eine Zwei- bis Drei-Bike-Race-Strategie sieht:- ONE für Highspeed-Etappen und Massensprints
- OSTRO VAM als „Allround“-Race-Bike
- O2 für die reinen Klettertage
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Position und Komfort
Geometrie und Cockpit zwingen förmlich in eine sehr weit vorn liegende, tiefe, schmale Position. Perfekt, wenn du für Crits, flache Rennen und TTT-artige Highspeed-Sessions lebst – weniger ideal, wenn du eine entspannte Ganztages-Position suchst. Dass es kein Endurance-Bike ist, dürfte damit ziemlich klar sein. ;)

Fazit: eine neue Messlatte – mit Einschränkungen
Kurz gesagt:
- Das Factor ONE ist eines der schnellsten – und vermutlich eines der aero-optimiertesten – Rennräder, die man aktuell kaufen kann, vor allem in Bike-only-Messungen.
- Es scheint eine neue Messlatte für Konstanz über verschiedene Yaw-Winkel zu setzen, statt nur bei idealisierten Low-Yaw-Situationen zu glänzen.
- Es ist ein kompromissloses Pro-Race-Bike mit einigen sehr spannenden Ideen und mit klaren Trade-offs (komplexe Frontend-Montage, offene Fragen zur Langzeit-Dichtigkeit im Tretlagerbereich, …).
Es ist eben nicht so einfach wie: „Das ist das schnellste Aero-Rennrad, punkt, schaut euch diese Prozentzahl an.“ Die Wahrheit ist – wie immer – abhängig vom Protokoll und vom Menschen, der drauf sitzt.
Preise
Du hast vermutlich nicht auf ein Schnäppchen gehofft, wenn du bis hierher gelesen hast:
Ein „Premium Package“-Frameset schlägt mit 8.199,00 € zu Buche, ein „Volks“-Aufbau mit SRAM Force liegt bei 13.399,00 €. Die Range endet bei schlanken 15.899,00 € für die Campagnolo-Super-Record-13s-Konfiguration.
Kurz: Junge, leidenschaftliche Amateur-Racer wirst du auf diesem Rad wohl eher selten sehen. Es richtet sich klar an die finanziell besser Gestellten unteruns. Wie alle Superbikes. 🥲
Von meiner Seite: Ich habe bereits ein Testbike angefragt. Wenn das klappt, werde ich in die Praxis einsteigen – Aufbau, Passform, Handling bei Renn-Geschwindigkeit, Langstreckenkomfort und natürlich die Frage, ob sich das Rad auf der Straße so anfühlt, wie es die Windkanal-Daten versprechen. Wenn es so weit ist, gibt es einen ausführlichen Bericht aus dem Sattel – nicht nur aus dem Datenblatt.
